Als Reaktion auf die nach Einschätzung von Finanzmarktaufsehern weit „verbreitete Nutzung externer Ratings durch institutionelle Investoren“ hat der europäische Gesetzgeber am Ende des vergangenen Jahrzehnts die Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Rating-Agenturen (Credit Rating Agencies, CRA) ins Spiel gebracht. Durch die dritte Änderungsrichtlinie dieser Verordnung wurde ihr Anwendungsbereich auf die Verwender von Ratings ausgeweitet. Dadurch werden Investoren verpflichtet, nicht länger einen automatischen und ausschließlichen Bezug auf externe Ratings zu nehmen.
Zum Einstieg in dieses vielschichtige Thema muss man zunächst feststellen, dass die Vorschriften im Aufsichtsrecht und der Rechnungslegung mitunter sehr Rating-intensiv sind, da es unzählige Rating-Verweise gibt. Mit anderen Worten werden institutionelle Investoren im Tagesgeschäft immer wieder aufgefordert, auf externe Bonitätsnoten Bezug zu nehmen. Und dennoch oder gerade deshalb müssen sich Versicherungen, Pensionskassen und andere Kapitalsammelstellen heute intensiver denn je mit den Emittenten in ihren Portfolios beschäftigen und deren Bonität immer wieder hinterfragen. Wie sie dabei vorgehen, welchen Aufwand sie damit haben, wer ihnen hierbei unter die Arme greift und ob den daraus resultierenden Kosten am Ende auch ein monetärer Nutzen entspringt, darüber debattierten fünf Experten auf der Jahreskonferenz von portfolio institutionell. Mit von der Partie in Berlin war Christophe Frisch. Er ist Head of Fixed Income bei Talanx Asset Management. Ihm zur Seite stand mit Thomas Schmitz der Leiter der Abteilung Kapitalanlagen der Pensionskasse HT Troplast. Darüber hinaus steuerte Hendrik Emrich, Leiter Credit Research bei Euler-Hermes-Rating, viel Wissenswertes zu der komplexen Materie bei. Gleiches gilt für Helmut Cardon, Executive Director bei Morgan Stanley Investment Management, und Paul Matlack, Senior Portfolio Manager mit Schwerpunkt High Yields bei Delaware Investments.
Den Auftakt der Diskussion machte Hendrik Emrich. Auf die Frage, ob institutionelle Investoren seiner Einschätzung nach die externen Bonitätsnoten der Rating-Agenturen in der Vergangenheit ohne kritische Prüfung übernommen hätten, entgegnete er: „Ich bin der Auffassung, dass sich die Finanzkrise nicht unwesentlich dadurch verstärkt hat, dass zuvor ein etwas sorgloser Umgang bei der eigenen Kreditrisikobeurteilung an den Tag gelegt wurde.“ Diese Situation habe sich spätestens dann gezeigt, als die Strukturen komplexer wurden, Stichwort Verbriefungen. Anders gesagt: Investoren haben etwas zu sehr ausschließlich auf die Expertise der global agierenden Rating-Agenturen vertraut. In der Krise habe das dann zu einer Negativspirale geführt. Das wiederum machte dann ein Umdenken notwendig und auch sinnvoll, betonte Hendrik Emrich.
Doch Credit Research ist nichts, was man nebenher abarbeiten kann. Während mittelgroße und vor allem kleinere Häuser mangels Personal ihr individuelles Rating-Modell von einem Dienstleister beziehen und in einem solchen Outsourcing-Fall gleich auch die dazugehörige Datenflut bewältigen können, kann man Branchengrößen wie der Talanx zutrauen, hier genug interne Schlagkraft vorzuhalten. Hendrik Emrich wies in dem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass man als Investor in jedem Fall das letzte Wort haben sollte, ob man ein quantitatives Rating aufgrund qualitativer Faktoren noch um einen oder mehrere Notches nach oben oder unten variiert.
Diskutant Christophe Frisch fungiert seit Juli 2007 als Head of Fixed Income bei Talanx Asset Management. Nach seiner Einschätzung muss man das Thema Credit-Rating von zwei Seiten betrachten: Einerseits sind externe Ratings gegeben und für einen Versicherer wie die Talanx wichtig für die Eigenkapitalunterlegung unter Solvency II. Andererseits hätten externe Ratings in der Vergangenheit in einigen kritischen Marktphasen keine optimalen Ergebnisse gebracht – um es diplomatisch zu formulieren. Frisch warb in dem Zusammenhang um Verständnis für die oft gescholtene Branche, indem er zu bedenken gab, dass es Phasen gebe, in denen die Ziele der externen Bonitätswächter und die eines Asset Managers komplett unterschiedlich seien. „Es bringt uns nichts, wenn das Ziel der Rating-Agentur erfüllt ist, einen Emittenten kurz vor dessen Default auf ‚D‘ zu stellen. Denn der Kurs am Markt ist im Zweifelsfall an dieser Stelle schon längst abgestürzt“, erläuterte der Talanx-Mann.
Möglicherweise, so argumentierte Frisch, warten die unter öffentlichem Druck stehenden Agenturen etwas länger, bis sie ihre Ratings modifizieren. Dann gehe es aber ganz schnell abwärts. „Investoren haben letztlich aber nichts davon, ob das Rating bei CCC oder schon bei D liegt. Sie wollen ihr Geld wiederbekommen.“ In dem Zusammenhang betont Christophe Frisch: „Mir bringt es nichts, wenn ich eine Anleihe nach der Herabstufung auf D zu einem Kurs verkaufe, zu dem das Papier bereits vorher gehandelt wurde.“ Grundsätzlich, so führte er aus, müsse alles, worin sein Haus investiert, vorab analysiert werden. Und auch unterjährig werden die Investments in Abhängigkeit von der Rating-Kategorie auf den Prüfstand gestellt; Investment-Grade-Titel zwei Mal, was als Sub-Investment-Grade eingestuft wird, sogar viermal im Jahr. Hinzu kommen ad-hoc-Analysen, falls ein Problem auftaucht. Bei der Talanx trifft man sich abseits der eigentlichen quantitativen Analyse regelmäßig mit dem Management der Emittenten, um sich einen Eindruck über dessen Zuverlässigkeit zu verschaffen. Damit kommt man dem Ansinnen der Aufsicht vorbildlich entgegen. Sie ist schließlich daran interessiert, dass Investoren sich die externen Ratings zu Gemüte führen, sich eigene Gedanken machen und, wenn es sein muss, nachhaken.
Dem Markt einen Schritt voraus sein
Für Frisch geht es derweil aber nicht nur darum, nun auch diese regulatorischen Anforderungen zu erfüllen, sondern man wolle wissen, „was wir kaufen und wo die Risiken im Portfolio liegen“. Bei der Talanx Asset Management beschäftigen sich rund 40 Mitarbeiter mit dem Thema. Eine enorme Herausforderung bestehe zusätzlich in den ausgetrockneten Anleihemärkten. Man müsse deshalb in der Analyse so positioniert sein, dass man Anleihen problematischer Emittenten, zügig verkaufen kann, solange noch etwas Liquidität am Markt vorhanden ist. Wenn sich erst herumgesprochen hat, dass ein Emittent in die Krise schlittert, sei die Handlungsfähigkeit am Markt kaum noch gegeben. Wie Frisch zudem erläuterte, sei die Bonitätsnote aus Investorensicht nur eine Seite der Medaille. Vielmehr müsse man das Rating und den entsprechenden Preis in Beziehung setzen.
Es reiche nicht, sagte er, wenn man sich als Investor mit einem „AA“ zurücklehnt und hofft, dass nichts passieren wird. Was man bei der Debatte rund um externe Ratings nicht vergessen dürfe: Rating-Agenturen vergeben ihre Noten häufig über den Konjunkturzyklus hinweg. Auf Investorenseite könne man das nicht. Im Gegensatz zum Konzept externer Ratings stellt man sich bei der Talanx-Tochter immer wieder die Frage, ob das Investment es noch wert ist, daran festzuhalten oder ob man sich davon trennen sollte. Diese Möglichkeit haben Rating-Agenturen natürlich nicht.
Mit Blick auf die Größe spielt die Talanx Asset Management mit einem verwalteten Vermögen in Höhe von derzeit etwa 123 Milliarden Euro in einer anderen Liga als viele andere Investoren und auch als die Pensionskasse HT Troplast. Und während man bei der Talanx das regulatorische Augenmerk auf Solvency II richtet, muss sich die mit einer Bilanzsumme von rund 317 Millionen Euro (Stand 2014) hantierende Pensionskasse HT Troplast nach der Anlageverordnung richten. Zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und dennoch: Auch der Leiter der Abteilung Kapitalanlagen der Pensionskasse, Thomas Schmitz, muss die Bonität der Emittenten in seinem Portfolio im Blick behalten. Wie er verriet, bestand seine erste Aufgabe nach dem Amtsantritt im Jahr 2010 darin, gemeinsam mit dem Vorstand die Handhabung externer Ratings zu analysieren und der Frage nachzugehen, wie sehr man ihnen vertrauen könne.
Das sei sozusagen der Startschuss gewesen, im Jahr darauf ein internes Rating aufzubauen. „Das war damals sehr aufwendig, wenn man bedenkt, dass wir eine recht kleine Pensionskasse sind“, berichtete Schmitz rückblickend, auch wenn das dabei entstandene System recht einfach und vor allem transparent sei. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker (FH) führte aus, dass im Kern der Betrachtung eine Bilanzanalyse steht. Zusätzlich werden daneben auch sogenannte weiche Faktoren berücksichtigt; man betrachtet das Geschäftsmodell, die Wettbewerbsposition und lässt bei der eigenen Bonitätsbetrachtung auch das externe Rating einfließen, um daraus ein Scoring zu bilden. Dieses Konzept habe ihm und seinen Kollegen sehr dabei geholfen, die Bonität der knapp über 100 Emittenten im Bereich der Unternehmensanleihen jedes Jahr aufs Neue effizient zu visualisieren. Schmitz betrachtet ein internes Rating als elementar; schließlich wolle man sich intensiv mit den Unternehmen im Portfolio beschäftigen, um sicherzugehen, dass man mit jedem Investment erfolgreich ist.
Kunst und Intuition
Auch Paul Matlack aus dem Hause Delaware Investments kommt im Tagesgeschäft immer wieder mit externen Ratings in Kontakt. Um sich aber ein eigenes Bild von der Zahlungsfähigkeit von Anleihe-Emittenten zu verschaffen, beschäftigt man bei Delaware 18 interne Credit-Spezialisten. Kreditanalyse sei eine Kunst und keine Wissenschaft, bekundete der High-Yield-Spezialist. Man brauche Mitarbeiter mit Urteilsvermögen und Intuition, idealerweise habe man Fachleute an Bord, die sich mit ihren individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften ergänzen. „Wenn man ein eigenes Rating hat, kann man seine Entscheidungen fundierter treffen und sich ein Bild davon machen, welche Richtung ein Unternehmen eingeschlagen hat“, so Matlack, der die Besucher der Jahreskonferenz dazu animierte, sich mit Hilfe eigener Analysen ein Bild der Bonität zu machen. Die Rating-Agenturen machten eine gute Arbeit, sagte er. Aber sie seien ein Indikator mit zeitlicher Verzögerung.
Helmut Cardon von Morgan Stanley griff einen Punkt auf, den zuvor Talanx-Experte Christophe Frisch ins Spiel gebracht hatte. Er führte aus, dass externe Ratings für Versicherungsgesellschaften unter Solvency II eine große Rolle spielen, weil sich daran die Unterlegung der Assets mit Eigenkapital bemisst. Aus Sicht der Assekuranz bestehe heute ein Zielkonflikt zwischen der Maximierung der Rendite und der erforderlichen Unterlegung der einzelnen Vermögenswerte mit Eigenkapital, sagte er. „Wir leben in einem Niedrigzinsumfeld, das es Versicherern besonders schwer macht. Schließlich haben sie langjährige Garantieversprechen abgegeben“, betonte Helmut Cardon. Mit Blick auf seinen Werdegang kann man fest davon ausgehen, dass er diesen Satz nicht primär aus Vertriebsgründen in den Ring geworfen hat. Der Experte für europäische Versicherungen und Pensionsfonds ist bereits seit zehn Jahren bei Morgan Stanley an Bord. Zuvor arbeitete er bei Shell und dem dazugehörigen Pensionsfonds.
In seinen Kundengesprächen werde heute immer wieder deutlich, dass es zwei Gruppen von Versicherungen gibt, sagte er. Die einen seien umfangreich mit Eigenkapital ausgestattet. Sie hätten mit Blick auf die Kapitalanlagenauswahl unter ökonomischen Gesichtspunkten bei Solvency II keine Probleme, das erforderliche Solvenzkapital aufzubringen. Andere Häuser wiederum seien deutlich dünner mit Eigenmitteln ausgestattet. Speziell für diese sei die strategische Asset Allocation eine Herausforderung. Hier gehe es darum, das Optimum zwischen den Kapitalanforderungen einzelner Anlageklassen und der von ihnen in Aussicht gestellten Rendite zu finden. „Credit Ratings sind dabei sehr wichtig“, so Cardon. Denn die Höhe des Ratings schlägt sich unmittelbar im erforderlichen Solvenzkapitalbedarf nieder. In der Praxis laufe das auf die Optimierung des Verhältnisses zwischen den Kapitalanforderungen und der erwarteten Rendite hinaus. Gleichwohl, so räumte Cardon im Hinblick auf die aufsichtsrechtlichen Beschränkungen ein, sei die Optimierung der vielfältigen Ziele eines Versicherungsunternehmens eine wachsende Herausforderung. Hier sei intensive Abstimmungsarbeit aller Beteiligten im Prozess der Portfoliooptimierung erforderlich.
Offen und zielstrebig
Institutionelle Investoren begegnen den Vorgaben, die sich aus der CRA-III-Verordnung für sie ergeben – Stichwort eigene Beurteilung der Kreditrisiken – nicht immer aufgeschlossen. Manche packen den Sachverhalt allerdings auch tatkräftig an und begreifen die neue Verantwortung als Chance, um systematisch und strukturiert an das Thema Rating heranzugehen – obwohl sie es in der Form noch gar nicht müssen. Darauf wies Hendrik Emrich von Euler Hermes hin. Und der Grund ist durchaus plausibel. Seinen Beobachtungen zufolge wollen die Vorreiter so einerseits bessere Investitionsentscheidungen treffen, andererseits wollen sie nicht in die Enge getrieben werden, sollte die Aufsicht eines Tages von jedem ein eigenes Rating-Tool verlangt. Doch diese Denkweise sei nicht sehr weit verbreitet. Es gebe auch heute noch Investoren, die zunächst einmal nur das Nötigste von dem machen, was die Aufsicht von ihnen verlangt. Sie argumentieren: Ich warte zunächst ab, dass mich die Bundesfinanzaufsicht Bafin gesondert darauf anspricht. Ein solche Vorgehen sieht Hendrik Emrich denkbar kritisch. Denn er hält es für wahrscheinlich, dass die Vorgaben für interne Ratings noch präziser und vor allem restriktiver werden könnten. Deshalb sollte man sich als Versicherung oder Pensionskasse frühzeitig positionieren. Jenen Zeitgenossen, die sich heute noch ein Stück weit gegen eigene Ratings sperren, rief Emrich zu, dass es nicht darum gehe, bessere Analysen als die großen drei anzustellen, um womöglich eine höhere Treffergenauigkeit zu erzielen und die Ausfallwahrscheinlichkeit besser einschätzen zu können. Kern von CRA III sei es vielmehr, sich intern Gedanken über die Bonität zu machen, externe Ratings zu plausibilisieren und das Ganze zu dokumentieren, um damit zu zeigen, dass man es verstanden hat.
Talanx-Vertreter Christophe Frisch gab gegen Ende der Gesprächsrunde zu bedenken, dass Investoren und deren Bonitätswächter nicht zuletzt wegen der nicht ausgereiften Harmonisierungsanstrengungen in der Europäischen Union mit einem stark wachsenden Analyseaufwand konfrontiert seien. Die EU habe das Ziel ausgerufen, die Rahmenbedingungen bei Anleihen zu harmonisieren. In der Praxis zeige sich aber, dass jedes einzelne Land die bei Anleihen so typischen Senioritäten insbesondere im Bereich der Banken anders definiert. Natürlich, so bemerkte Frisch, gibt allein schon die Anzahl der in einem Portfolio versammelten Emittenten einen Vorgeschmack darauf, mit welchem Analyseaufwand man es zu tun hat. Bei der Talanx zählt man derzeit zwischen 700 und 800 Emittenten, darunter Banken und Corporates. Weil die einzelnen Tranchen, angefangen bei Senior Secured über Senior Unsecured bis hinab zu den Nachrängen, aber regulierungsbedingt immer vielfältigere Formen annähmen, steige der Analyseaufwand erheblich.
Als Investor sei es deshalb immer schwieriger, dahingehend eine Aussage zu treffen, wo ein gerechter Spread der individuellen Tranchen liegt. Das heißt, die Anzahl der Emittenten ist nicht einmal so sehr der Knackpunkt, ob man es mit einem komplexen Portfolio zu tun hat. Vielmehr sei es die Frage, in welchen Senioritäten und insbesondere in welchen Rechtskreisen man als Investor unterwegs sei. Beispielsweise könne man spanische und britische Senior-Tranchen von Banken, anders als früher, heute nicht mehr miteinander vergleichen. Zwar stehe bei beiden „Senior“ auf dem Papier, aber die Ansprüche, die man gegen die Emittenten stellen dürfe, seien komplett unterschiedlich. Nicht minder unterschiedlich ist es aber auch um die Bereitschaft institutioneller Investoren bestellt, die Kreditwürdigkeit einer Vielzahl von Emittenten im Portfolio systematisch und effizient abzuklopfen und das für die Aufsicht zu dokumentieren. Schade eigentlich. Denn interne Ratings kann man durchaus als Chance begreifen.
Von Tobias Bürger
portfolio institutionell, Ausgabe 05/2016